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Die „verlorene Generation“ der Musikindustrie

28. Januar 2009 von Christian Imhorst

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Als der Rock ’n‘ Roll noch jung war, hingen die Teenager vor dem Musikladen herum und hörten die neuste Musik. Wenn der Laden am Abend schloss, und die Jungs und Mädchen die Musik zu Hause weiter hören wollten, mussten sie einen Tonträger kaufen. Da auch damals das Budget der Jugendlichen schmal war, besorgten sie sich lieber eine Single mit ihrem Lieblingslied, anstatt die ganze Langspielplatte. Das besondere daran war aber: Die Teens wurden als die wichtigste Zielgruppe zuerst von der Musikindustrie erkannt. Sie blieben nämlich ihr Leben lang Käufer.

Als Käufer haben die Teenager von heute wenig mit den Halbstarken und Rockabillies von damals gemeinsam, zumindest aus der Sicht der Plattenproduzenten. Daher hat sie die heute 14-jährigen die „Gen D“ getauft. Eine neue Generation dieser besonderen Kundschaft, die so überlebenswichtig für die Musikindustrie ist. Dabei steht das „D“ für „digital“ und für „download“.

Charakteristisch für die „Gen D“ ist, dass sie zum Musikhören eher ihren Computer benutzen, als ihre Stereoanlage. Viele von ihnen haben sich schon länger keine CD mehr ge­kauft, weil es leichter ist, mit Programmen wie Gnutella, KaZaA oder LimeWire Musik aus dem Internet herunter zu laden. Mit einer schnellen DSL-Verbindung ins Internet können beliebte Songs, die Chartbreakers und One-Hit-Wonders, häufig in weniger als zwei Minu­ten heruntergeladen werden. Eine CD offline zu kaufen und mit nach Hause zu nehmen, dauert länger. Die Musikindustrie betrauert nach eigenen Angaben mehrere Milliarden US-Dollar Verluste.

Eine gute Nachricht ist da, dass Apples Musikladen „iTunes“, in dem ein Song 99 Cent kos­tet, von der „Generation D“ angenommen zu werden scheint. Nach seinem Start Ende April 2003 wurden mehr als drei Millionen Songs verkauft. Andere Musikläden versuchen online an den Erfolg anzuknüpfen.

Als Napster, die weltweit größte Internet-Tauschbörse für Musik, gerade hip war, konnten noch viele Jugendliche behaupten, dass sie gar nicht gewusst hätten, dass das herunterladen von Musik illegal ist. Heute wissen es die meisten, und sie laden trotzdem weiter Musik über KaZaA und andere Tauschbörsen herunter. Einige Plattenproduzenten haben für diese Kids die Bezeichnung „verlorene Generation“ eingeführt, da die Jugendlichen sich zu sehr an die Geschenkmentalität im Internet gewöhnt hätten, und sie sich nur schwer zur bezah­lenden Kundschaft wieder umgewöhnen lassen würden. Dazu Paul Vidich, Vizepräsident der Warner Music Group, am 16. Juni 2003 im San Francisco Chronical: „Ich sehe sie nicht als verlorene Generation. Sie sind verlorene Käufer, aber keine verlorenen Konsumenten.“1

In der „Generation D“ fallen Käufer und Konsument auseinander, die bei den Rockabillies noch eins waren. Dank dem Internet können die Konsumenten heute ihre Musik hören, ohne dass sie vorher für den Tonträger bezahlt haben müssen. Im Zeitalter nach Napster wissen die meisten Jugendlichen zwar, dass der unbezahlte Download von Musik illegal ist, aber sie denken dabei in erster Linie nicht an Diebstahl. Warum auch? Musik ist als digitales Gut geistiges Eigentum des Künstlers, oder, wie es auch häufig scheint, das geistige Eigentum der Plattenkonzerne. Als digitales Gut ist Musik eine besondere Ware: Sie wird dadurch nicht weniger, wenn man sie teilt.

Die westlichen Jugendlichen sind im neuen Jahrtausend Technikfreaks, und die neuen Tech­nologien wie DVD und Handy konkurrieren mit Musik im MP3-Format. Die Teenager haben keine Probleme mit Multitasking am Rechner. Der Wechsel von Hausaufgaben erle­digen, im Web surfen, Internetradio hören und Playlists für Musikstücke erstellen, ist fließend, das Herunterladen der MP3s in und fashioned. Der Download steht aber nur im geringen Maße in Konkurrenz mit der CD. So sagt der junge Eagon Brown aus Oakland dem Chronical: „Als ich in der Mittelschule war, habe ich noch CD-Singles gekauft. Jetzt habe ich KaZaA und brauche das nicht mehr. Ich lade mir die One-Hit-Wonders jetzt einfach herunter. Wenn aber ein Album erscheint, von dem ich weiß, dass es gut ist, dann kaufe ich es auch. Aber warum soll ich eine CD im Laden für 20 Dollar kaufen, wenn ich nur einen Song darauf gut finde?“

Für viele Jugendliche wie Eagon Brown, ist Filesharing vielleicht ein Verstoß gegen das Gesetz, moralisch geht es aber völlig in Ordnung. Warum auch für eine ganze CD Geld aus­geben, wenn man doch nur einen einzigen Song haben will? CDs werden gebrannt, um sie an Freunde auszuleihen, damit man nicht das Original weggeben muss, dass man dann eh nur zerkratzt zurück bekommt. Und letztendlich hat der bespielte Rohling das Mix-Tape ersetzt, das man früher für den Freund oder die Freundin aufgenommen hat. Was früher ge­duldet war, das soll nun verboten sein? Das ist der Grund, warum so viele Jugendliche wie Brown denken: „Wenn die Strafen vielleicht höher wären, und ich mehr Angst davor habe müsste, dass ich erwischt werde, dann würde ich vielleicht damit aufhören. Aber bislang hat mich das noch nicht gestört.“

Viele Kids haben auch kein Problem mit dem illegalen Download von Musik, weil sie meinen, dass die Anzugträger von der Musikindustrie die paar Dollar oder Euro schon verschmerzen können. Das lässt aber Cary Sherman, Präsident der Recording Industry Association of America (RIAA), im Chronical nicht gelten: „Sagt das den Tausenden Men­schen, die entlassen worden sind, den Tausenden Besitzern von Plattenläden, die schließen mussten und den Künstlern, die deswegen keinen Plattenvertrag bekommen haben.“

Bislang ist die Musikindustrie das Problem der illegalen Downloads nur mit erhobenem Zeigefinger angegangen. Anwälte erzählen den Kids, dass das, was sie tun, böse und straf­bar sei. Doch warum sollten Jugendliche ein moralisches Problem damit haben, wenn sol­chen Jungs am Monatsende Geld in der Brieftasche fehlt? Bislang ist die wirtschaftlich gesehen einzige interessante Reaktion auf das Problem der Online-Musikladen von Apple: iTunes.

Für Teenager ist iTunes sexy. Die Oberfläche ist durch und durch stylish: Vom Web­interface des Online-Ladens bis zum MP3-Player iPod, und der One-Hit-Wonder zum her­unterladen für 99 Cent, was günstiger scheint, als die ganze CD für 20 Dollar. Teenager schauen häufig halt lieber auf den äußeren Glanz, als darauf, wie die Dinge im Inneren funktionieren.

Im Chronicle ist Paul Vidich vom richtigen Ansatz der iTunes überzeugt, besonders nach­dem die ersten Nachahmer versuchen, Marktanteile für sich zu erobern. Er ist sich sicher, iTunes und die anderen werden den Musikmarkt verändern. Plattenfirmen könnten den Ver­kauf von Songs einzelner Künstler mit ein oder zwei Tracks online starten, bevor sie das ganze Album anbieten. Ein Album könnte auch erst dann erscheinen, wenn es genügend Singles gibt, die es ausfüllen. Das wäre eine totale Umkehr von der heutigen Praxis, und es „werden noch weitere Dinge geschehen, die uns dazu bewegen werden, unsere Geschäfts­wege zu verändern“, so Vidich weiter.

In der Hauptsache dreht es sich beim illegalen Download von Musik um einen bestimmten Punkt: Die Musikindustrie bieten mit dem Album heute ein Produkt an, das viele Teenager so nicht mehr wollen. Statt dessen wollen sie erschwingliche, bezahlbare Musik Song für Song und nicht auf einen Tonträger gebündelt. Warum auch sein sauer gespartes Ta­schengeld für eine CD verschwenden, auf der man nur einen Song gut findet? Den Song schnell über das Internet herunterzuladen, scheint da klüger und günstiger zu sein.

Viele Jugendliche haben moralisch mit dem illegalen Download von Musik auch deshalb kein Problem, weil sie meinen, dass der Künstler, der in ihren Augen das Geld eigentlich verdient hätte, wenig bis gar nichts vom Gewinn der Plattenfirma sieht. Im Artikel „Court­ney Love does the math“ im Online-Magazin salon.com bestätigte Courtney Love, Sängerin der Gruppe Hole, solche Gedanken: „Wir Künstler glauben gerne, dass wir eine Menge Geld verdienen können, wenn wir Erfolg haben. Aber es gibt Hunderte Geschichten von 60- und 70-jährigen Künstlern, die pleite sind, weil sie nie einen Pfennig für ihre Hits bekom­men haben. […] Künstler, die der Industrie Milliarden von Dollar eingebracht haben, sterben arm und unversorgt. Und sie sind nicht etwa Darsteller oder sonstwie sekundär Beteiligte. Sie sind die rechtmäßigen Eigentümer, Urheber und ausübenden Künstler von Original­kompositionen. Das ist Piraterie.“2

Früher, in der guten alten Zeit des Rock ’n‘ Roll, hat die Musikindustrie ihre Kunden an sich angepasst. Heute kann Musik als digitales Gut mit nur einem Mausklick geteilt werden, und die Musikindustrie kommt in die verzweifelte Situation, dass sie sich ihren Kunden an­passen muss, mit neuen Produkten, neuen Distributionswegen und so weiter. Mit iTunes hat die Musikindustrie neue Absatzwege entdeckt. Führende Brausehersteller verschenken Millionen Songs, indem sie zum Beispiel Zugangscodes zu iTunes oder anderen Online-Läden auf der Innenseite ihrer Getränkeverschlusskappen verteilen. Mit solche Aktionen schießt sich die Musikindustrie allerdings selber ins Knie: Sie verstärkt dadurch bei ihrer Kundschaft den Eindruck, dass Musik umsonst, oder zumindest ziemlich günstig zu haben sein sollte. Songs werden zur Dreingabe von Marketingabteilungen großer Konzerne.

Die Klagewelle der RIAA und die Werbespots gegen Raubkopierer zeigen in den USA be­reits eine abschreckende Wirkung. Einige der früheren Raubkopierer lassen deshalb auch heute ihre Finger von den illegalen Musikdownloads. Zum Unglück der Musikindustrie kaufen diese Kids deshalb aber nicht mehr CDs, als sie ohnehin gekauft hätten. Denn das eigentliche Problem bleibt: Warum eine ganze CD für 15 oder mehr Euro/Dollar kaufen, wenn doch nur ein oder zwei gute Songs auf der Scheibe sind?

Stattdessen hören die Kids lieber Internetradio, wie last.fm. Zum Download oder Kauf der CD ist es die beste Alternative: Man kann beim Internetradio seine Musik selber zusammen­stellen. Die wird dann entweder in einer zufälligen Reihenfolge abgespielt, oder man kann sich gezielt das ganze Album einer Gruppe vorspielen lassen. Wenn ein „Freund“ auf der Website einen ähnlichen Musikgeschmack hat, machen Internetradios ihre Zuhörer darauf aufmerksam, welche neuen Songs vom „Freund“ in ihrer persönlichen Wunschliste noch fehlen. In die kann man dann probeweise reinhören. Gefällt der Song, bleibt er in der Liste und es werden ähnliche weitere Musikstücke ausgesucht. Man hat sozusagen einen neuen Lieblingskünstler dazu gewonnen, ohne diverse teure Fehlkäufe verkraften zu müssen. Ge­fällt der Song nicht, dann kann man ihn aus seiner Playlist verbannen und braucht ihn nie wieder zu hören.

Endnoten

1 San Francisco Chronical: „Music industry changing its tune“ — Zugriff am 14.11.2004

2 Salon.com: „Court­ney Love does the math“ — Zugriff am 14.11.2004

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